Nach der Paywall: Verleger-Perspektiven vom Audiencers’ Festival
Auf dem Audiencers Festival in London kristallisierte sich während der Sessions mit Führungskräften führender internationaler Medienhäuser ein gemeinsames Thema heraus: Die Audience-Strategie wird grundlegend neu definiert. In einer Zeit, in der der Traffic von Plattformen zurückgeht und die Digital-Advertising-Ökonomie volatil bleibt, stehen Abonnement-Modelle unter Druck – sie müssen nicht nur wachsen, sondern dauerhaft bestehen.

Referent:innen der Financial Times, The Telegraph, Business Insider, der BBC, von Mediahuis Belgium und andere kamen zu einer gemeinsamen Diagnose: Reichweite allein ist kein ausreichendes Geschäftsziel mehr. Stattdessen verlagern sich Verlage auf Modelle, die wahrgenommenen Mehrwert, Nutzerautonomie und emotionale Bindung in den Mittelpunkt stellen. Zugehörigkeit ist kein weiches Ideal mehr – sie entwickelt sich rasch zu einer zentralen Geschäftskennzahl.
Von Metriken zu Bedeutung: Der Aufstieg der Leserbeziehungs-Modelle
Madeline White, VP Marketing bei Poool und Mitgründerin von The Audiencers, brachte die Herausforderung auf den Punkt: Klassische Kennzahlen wie Pageviews, Öffnungsraten oder App-Downloads liefern kaum Einblick in Loyalität oder Bindung. Verlage müssen stattdessen dauerhafte Beziehungen fördern, die Auswahlmüdigkeit und Abo-Kündigungen überstehen.
Diese Verschiebung zeigt sich in neuen Engagement-Strategien. Personalisierung, Community-Interaktion und reibungslose Offboarding-Optionen werden nicht nur zur Funnel-Optimierung getestet, sondern zum Vertrauensaufbau. Beispiele sind Substacks Referral-Leaderboards, zusätzliche Familienkonten der Washington Post und Nutzer-Belohnungen fürs Kommentieren.
Funktionales Engagement statt Frequenz: Lektionen von L’Équipe
Louis Faure, Head of Strategic Marketing bei L’Équipe, beschrieb den Wechsel von linearer Content-Belieferung hin zu „funktionalem Engagement“. Neue Tools – Legislativ-Tracker, KI-generierte Transkripte und Abo-Stufen nach Service-Layern – zielen nicht auf mehr tägliche Besuche, sondern auf maximalen wahrgenommenen Nutzen.
Bemerkenswert: Die höchste Nachfrage kam nicht von langjährigen Abonnent:innen, sondern von neuen Nutzer:innen ohne gewohnte Konsummuster. Über 60 % der Anmeldungen entfielen auf höherwertige Stufen – weit über den Prognosen. Die Schlussfolgerung: Relevanz, nicht Routine, bestimmt die Zahlungsbereitschaft.
Der Newsletter-Lebenszyklus neu gedacht: Wirksame Taktiken
Zoe Tabary von der BBC stellte „The Upbeat“ vor – ein Newsletter für „News Avoiders“ (jüngere, oft weibliche, unterversorgte Leser:innen). Dank stimmungsbasierter Segmentierung und CRM-Daten liefert er positive Stories. Ergebnis: hohe Engagement-Raten und ein jüngeres, diverseres Publikum.

Beim Toronto Star stellte der ehemalige Newsletter-Redakteur David Topping fest, dass Klarheit Neugier übertrifft: Links, die genau sagen, was Leser:innen erwartet („Hier erfahren Sie…“, „So funktioniert…“), erzielten deutlich mehr Klicks als vage Formulierungen. Erfolgreichstes Element: ein visuell dominanter Call-to-Action – der „big stupid button“ – der saisonale Rekord-CTRs erzielte.

Product Thinking und Abonnenten-Erlebnis
Die Strategie von The Telegraph, vorgestellt von Produktmanager Dean Attil, legt den Fokus auf Feature-Entdeckung und frühe Bindung. In den ersten 100 Tagen eines Abos erhalten Nutzer:innen kontextuelle Hinweise, Interface-Touren und Onboarding-Inhalte, um Gewohnheiten aufzubauen. Ziel ist nicht nur geringere Churn-Raten, sondern die tägliche Verankerung des Produkts.
Kennzahlen wie durchschnittliche Kommentarzeit (17 Minuten pro Nutzer:in) und Verschenk-Verhalten von Artikeln steuern die Roadmap. Fehlende Empfängerdaten bei Geschenke-Artikeln wurden als verpasste Chance erkannt – ein Hinweis, dass Retention, Akquise und Produktdesign als Einheit betrachtet werden müssen.
Reibung reduzieren, Kontrolle erhöhen
Bei Business Insider präsentierte Sabrina Cesar Tolomei ein Retention-Modell, das auf Verhaltensdaten und operativer Kontrolle basiert. Eine vereinfachte Kündigungsstrecke halbierte zwar Service-Anfragen, rettete jedoch 6 % der potenziellen Kündigungen. Dynamische Preise, abgestimmt auf Kohortendauer und Preissensibilität, übertrafen Flat-Rate-Angebote.

Wesentlich sei frühzeitiges Eingreifen: Onboarding-Mails, Plan-Erklärungen und Nutzungs-Nudges gelten als Prävention – so wird eine Exit-Rettung seltener nötig.
Funnel-Segmentierung: Condé Nast und das Ende der Plattform-Abhängigkeit
Sinkende Suchsichtbarkeit und die abnehmende Reichweite von Facebook veranlassten Sarah Marshall (Condé Nast) zu einer Verlagerung weg vom Top-of-Funnel hin zur Pflege des „happy middle“: wiederkehrende Nutzer:innen ohne Abo. Die Umbenennung eines Vanity Fair-Newsletters von „Cocktail Hour“ zu „Financial Fair Daily“ verzehnfachte die Paid-Conversions.
Content erfüllt nun doppelte Rollen: Shopping-Verticals und Reise-Guides generieren stetigen Traffic und Affiliate-Erlöse, während Newsletter-Redesigns und Evergreen-Strategien habitualisierte, direkte Audiences schaffen – unabhängig von Plattform-Algorithmen.
Nutzen als Strategie: Das Modell von Mediahuis Belgium
Katia Bebusschere, Manager Acquisition & Conversion bei Mediahuis Belgium, stellte ein bewusst fokussiertes Modell vor. Im Mittelpunkt steht die Journey zwischen Registrierung und Zahlung – oft der vernachlässigte Bereich im Funnel.
Bebusschere prägte das Konzept der „average intervention time“ – die typische Verzögerung zwischen Registrierung und Konversion. Kleine, testbare Experimente haben Vorrang vor großen Initiativen. Ziel ist nicht Erfindung, sondern Klarheit im Service und Abbau von Reibung, besonders beim Onboarding und an der Paywall.
Direct-to-Audience-Journalismus: Die Transformation des Bureau
Die Kehrtwende des Bureau of Investigative Journalism hin zu direktem Publikumskontakt spiegelt tiefere Strukturänderungen im Medienbereich wider. Einst auf Syndizierung fokussiert, nutzt das Bureau nun User-Needs-Mapping, um Formate – von Erklärstücken bis zu First-Person-Narrativen – auf unterschiedliche Motive („wissen“, „verstehen“, „fühlen“, „handeln“) zuzuschneiden.

Interne Akzeptanz war entscheidend: Journalist:innen wurden ermutigt, nicht angewiesen, Formate anzupassen – redaktionelle Autonomie blieb gewahrt, während die Zugänglichkeit stieg. Der neugestaltete Newsletter Uncovered verzeichnet deutlich höhere Öffnungsraten; Feedback-Schleifen zwischen Audience-Daten und Redaktion sind fest etabliert.
Fazit: Auf dem Weg zu nachhaltiger Aufmerksamkeit
Über Märkte und Modelle hinweg zeichnet sich ein klares Muster ab: Die nächste Phase des Digital Publishing setzt nicht auf die größte Reichweite, sondern auf die stabilste Beziehung. Abo-Geschäfte hängen nicht allein an der Akquise, sondern an Retention, Funktionstiefe und Vertrauen.
Zugehörigkeit, einst Randthema der Strategie, wird als zentraler Unternehmenswert neu interpretiert. Mit wiederkehrenden Umsätzen statt Pageview-Werbung und steigenden Anforderungen an Relevanz, Usability und Autonomie müssen Medien ihre Prioritäten neu justieren.
Gemeinsam ist den Erfolgsbeispielen des Audiencers Festival nicht Technologie oder Skalierung, sondern Klarheit des Zwecks. Die schnellsten Akteure jagen nicht Neuheiten, sondern besinnen sich auf etwas Dauerhafteres: Publikum als Beziehung, nicht Reichweite.